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 Merthachs Reise

Die Waldvögel hörten nicht auf zu schreien. Es war ein gewaltiger, vielstimmiger und nicht enden wollender Tumult, denn sie alle spürten die Anspannung, die über der Waldlichtung lag. Schon seit Stunden war spürbar, dass ein Kampf unvermeidbar war. Er würde bald beginnen, er hatte eigentlich schon begonnen und je mehr Zeit verstrich, umso spürbarer wurde die Anspannung. Die Sonne näherte sich bereits sichtbar den Baumwipfeln. Nicht mehr lange, und das erste Abendrot würde das Nahen der Nacht ankündigen.

Merthach stand in der Mitte der Lichtung und hatte die Augen geschlossen. Beide Hände umschlossen den Griff seines Schwertes, das er mit ausgestreckten Armen vor sich hielt. Die Spitze des Schwertes zeigte schräg Richtung Sonne. Sein Nacken- und Rückenfell stand spürbar aufrecht und seine Ohren neigten sich empor und verrieten völlige Aufmerksamkeit. Er hatte die Kampfkunst von dem besten Lehrmeister von West-Belkant gelernt. Das stand ihm zu, denn war sein Vater nicht König von Fergardhon, dem neuen Südbund? Merthach wusste, dass seine Augen ihm nur den schwächsten Sinn gaben, sie sahen zu viel und lenkten ihn ab von seinem Feind.

Er konnte sie riechen, die drei großen Tschakakis, die ihn umkreisten. Er roch den stechend scharfen Geruch ihres Fells, er spürte ihren Hunger und ihre Erregung und er wusste, dass sich der Geifer in ihren Mäulern sammelte. Obwohl die Vögel so sehr ihre Aufregung in den späten Nachmittagshimmel riefen, konnte er die Töne fein unterscheiden. Da war auch das Schnauben der Tschakakis, gelegentlich ein leises Wiehern und Hufschlag zu hören, während sie ihn unaufhörlich umkreisten und langsam, ganz langsam den Kreis immer enger zogen. Es würde dennoch ein wenig dauern, bis das große Männchen einen Angriff starten würde.

Es gab sie nur noch in den Vorwaldlanden westlich von Tuarest. Zumindest hatte er bisher nichts Gegenteiliges gehört. So große Tschakakis sind weiter östlich lange nicht gesichtet worden.

Tschakakis gehören zu den pferdeartigen Wesen. Ihre langen Mähnen sind dicht und dick und stehen aufrecht in die Höhe. Ihre Augen sind in der Regel gelb und können auch in der Dunkelheit hervorragend sehen. Die Kiefer sind kräftiger ausgeformt als die ihrer grasfressenden Verwandten und bergen gewaltige, messerscharfe Zähne, bereit, ihre Beute in kurzer Zeit in kleine Stücke zu zerreißen.

Merthach stand seit mehreren Stunden still an dieser Stelle und wusste, er könnte dies noch viele Stunden fortsetzen oder innerhalb von Sekunden einem Angriff parieren. Er spürte die begehrlichen Blicke der Tschakakis auf ihm. Sie waren hungrig, sie rochen sein Blut, aber sie sahen auch sein Schwert und spürten seine Kraft und die Gefahr. Aber sie würden losschlagen und sehr bald würde es so weit sein. Das große schwarze Männchen würde es sein, das angreifen würde, und es würde von hinten kommen. Merthach wusste genau, an welchem Ort sich jedes einzelne der drei Tschakakis befand, während sie ihn umkreisten. Er hörte sie, er roch sie, er spürte die Wärme ihrer gewaltigen Körper und er spürte ihre Präsenz.

Seltsamerweise konnten seine Gedanken während der letzten Stunden dennoch abschweifen, ohne dass er unaufmerksam wurde. Denn seine Gedanken gehörten dem Verstand, und es war nicht der Verstand und nicht das Denken, mit dem er seine Gegner belauerte. Er hatte den Palast seines Vaters verlassen, um den Than von Thorshonnen zu finden. So sehr wünschte er sich, ihn zu sehen und so lange gab es schon diesen Wunsch. Auf dem langen Gang zum Arbeitszimmer seines Vaters, König Celthach von Fergardhon, inmitten der langen Reihe der Gemälde der Könige der Vergangenheit, gab es dieses eine Bild von dem Than, der seinen Vater einst gekrönt hatte. Der Than war es, der sich vor langer Zeit die Herrschaft der bekannten Welt genommen und das Gleichgewicht wiederhergestellt hatte. Er herrschte nur ein Jahr, ordnete die Königreiche neu und verteilte dann all seine Macht auf die neuen Könige. Dann legte er seine Rüstung ab, übergab sein Schwert an Merthachs Vater Celthach und holte den Einog M’Attar zurück an den Hof. Anschließend ging er allein hinaus in die Wälder, und niemand hatte je wieder etwas von ihm gehört.

Seit seiner allerfrühsten Kindheit hatte Merthach sich gewünscht, den Than selbst zu sehen. Er konnte nicht erklären, warum. Es war wie eine übergroße Wissbegierde. Sein Vater hatte dies stets konsequent abgelehnt. Der Than hatte sich entschieden fortzugehen. Seine Vorfahren gehörten einst einem Waldvolk an und er würde niemals lange in einer Stadt leben. Dem Than, so hatte sein Vater erklärt, gehörten seine ewige Dankbarkeit und sein tiefster Respekt. Für ihn würde er zu jeder Zeit ohne zu zögern in den Tod gehen. Wenn der Than es wünschte, sich alleine in den Wald zurückzuziehen, so hatte dies so zu sein. Niemand habe ihn mehr zu stören.

Das schwarze Tschakaki schnaubte unvermittelt und wieherte heiser. Merthach hatte sich keinen Millimeter gerührt. Er wusste, dass die Geduld der Tschakakis nahezu erschöpft war. Sie warteten auf den kleinsten Moment der Schwäche bei ihm, auf den Impuls zur Flucht. Aber Merthach zeigte keine Schwäche. Er würde nicht weichen und auch er konnte töten.

Sehr zornig war sein Vater am Vorabend von Merthachs Aufbruchs zu den Vorwaldlanden. Merthach hatte wieder das Thema angesprochen, sich gute Gründe zurechtgelegt und eine Reiterkolonne gefordert, um den Than aufzusuchen. Es gab einen heftigen Streit und sein Vater war unnachgiebig. So war er dann in der Nacht alleine und ohne jeden Schutz aufgebrochen. Lediglich Proviant für die ersten Tage hatte er mitgenommen, aber auch Racnar, das Schwert seines Vaters, hatte er sich aus der Waffenkammer beschafft. Es war das Schwert, das ihm der Than einst übergeben hatte, und er wusste, sein Vater wäre außer sich, wenn er dies bemerkte. Fest und kühl spürte er den Griff des Thanschwertes in seinen Händen. Er hatte es gut brauchen können auf seinem langen Weg zu diesem Ort, und auch jetzt musste es ihm wieder gute Dienste erweisen.

Es war ein Aufbruch mit ungewissem Ausgang. Dass er das Schwert an sich nahm, würde seinem Vater zeigen, dass er sich nun alles nehmen würde, auf das er ein Anrecht zu haben glaubte. Es war nicht viel, aber es war das Recht, frei in die Welt zu gehen und zu tun und zu sehen, was sein Herz begehrte. Selbst wenn es der Than persönlich war. Ob ihm die Rückkehr verwehrt bliebe, würde sich zeigen, und er wollte zeigen, dass das für ihn nicht in erster Linie wichtig war. Schließlich musste sein Vater einsehen, dass – Gefahr! Das schwarze Tschakaki hatte zum Trab angesetzt, es war hinter ihm und es kam. Es wurde schneller und es würde springen. Auch die anderen beiden Tschakakis kamen nun auf ihn zu.

Im Moment eines Wimpernschlags schnellte Merthach mit einem gewaltigen Sprung in die Luft, drehte sich und hieb mit seinem Schwert mehrfach zu. Das große Männchen und ein weiteres Tschakaki waren sofort tot. Das dritte stand hinter ihm, es war an ihm vorbeigesprungen. Merthach wusste, dass es ihm nun den Rücken zukehrte. Er würde schneller sein, denn es sah in die andere Richtung und würde sich erst drehen müssen.

Merthach schnellte herum und hob sein Schwert, aber halt – es war etwas falsch, etwas stimmte nicht! Schneller als ein Gedanke es erfassen könnte, hatte Merthach erkannt, dass er die Hufe vergessen hatte. Der Huf flog bereits auf ihn zu; der starke, harte Huf eines großen Tschakakis konnte Felsen zertrümmern. Es gelang ihm, den Kopf zur Seite zu ziehen, er war fast schon außer Reichweite, da streifte der Huf seine Schulter.

Noch im Sprung wurde Merthach von dem gewaltigen Schlag zur Seite geschleudert. Ein heftiger Schmerz durchzog wie ein Blitz von der Schulter seinen gesamten Körper. Hart schlug er auf dem Boden auf. Das Schwert war ihm aus der Hand geschleudert worden und lag außer Reichweite. Er wollte sich rasch aufsetzen, doch er konnte seinen Arm nicht mehr bewegen. Das Tschakaki war bereits über ihm. Seine gelben Augen sahen voller Gier auf ihn herab und es hatte seine gewaltigen Zähne freigelegt. Er roch den heißen und fauligen Atem seines Feindes. Merthach konnte auch mit den Händen töten. Er würde alles versuchen, was nun noch in seiner Macht stand.

Da sah er, dass das Tschakaki plötzlich erstarrte, hinter ihn blickte und langsam zurückwich. Die Lippen hatte sich wieder über seine Zähne gelegt, es senkte den Kopf und schaute immerfort auf denselben Punkt. Mit einem Mal wurde Merthach bewusst, dass auch die Waldvögel verstummt waren. Innerhalb von Sekunden herrschte völlige Stille auf der Waldlichtung. Es war kein Vogel, kein Insekt und auch kein Windhauch wahrnehmbar. Etwas hatte die Lichtung betreten, eine Präsenz war da, deren Anwesenheit Merthach mit einem Mal deutlich spüren konnte. Merthach drehte sich, so gut es ging, um und sah hinter sich.

Aus dem Wald war ein alter Mann auf die Lichtung getreten. Er war nicht groß, eher sehr klein. Dünne Glieder schauten aus seiner einfachen Kleidung. Er stützte sich auf einen Stab, wie Merthach ihn sonst nur von M’Attar, dem Einog und Berater seines Vaters, kannte. Langsam und gemessenen Schrittes kam er auf sie zu. Das schneeweiße lange Haar hatte er zu einem Zopf zusammengebunden. An der Seite trug er eine schlichte Tasche, die er sich mit einem Gurt umgelegt hatte. Er hatte keine Waffe bei sich.

Nachdem der alte Mann etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, konnte Merthach sein Gesicht erkennen. Es waren seine roten, leuchtenden Augen, die seine Präsenz und seine Würde zeigten. Er hatte eine vergleichbare Person noch nie gesehen. Weder sein Vater noch Fillingas, König der Grauden, und auch sonst kein Priester oder Würdenträger hatte diese zwingende Autorität. Dann sah er die große Narbe, die, rechts oben von der Stirn kommend, seine linke Augenhöhle überquerte, offenbar ohne dass seinerzeit das Auge beschädigt wurde, und die über die linke Wange bis zum Kinn reichte. Da hatte er endgültig Gewissheit. Er wusste, dass der Than gekommen war.

Der Than hatte sie erreicht. Er schenkte Merthach zunächst nicht die geringste Aufmerksamkeit, sondern streckte seine Hand nach dem Tschakaki aus. Das Tschakaki war einige Schritte zurückgewichen und hielt seinen Kopf gesenkt. Die Ohren hatte es hinten an den Kopf angelegt. Der Than legte seine Tasche ab, schritt auf das Tschakaki zu und legte seinen Kopf an den gewaltigen Kopf des Tieres. So blieb er einige Zeit stehen, während das Tschakaki vom Kampf schwer atmend vor ihm stand. Es dauerte eine Weile und der Than blieb so lange stehen, bis das Tschakaki deutlich ruhiger geworden war und nunmehr langsam und leise atmete. Dann hob er seinen Kopf und sprach sehr leise und fast unhörbar einige fremdartige Worte in das Ohr des Tschakakis. Es drehte sich augenblicklich zur Seite und lief ruhig und ohne Eile auf den Wald zu.

Erst jetzt blickte der Than auf Merthach hinab. Er sah ihn ruhig aus seinen mohnroten Augen in die Augen, und Merthach hatte das Gefühl, dass er ihm in diesem Moment alles preisgab und dass der Than alles, was es über ihn zu wissen gab, erkannte. Mit Hilfe seines Stabes kniete sich der alte Mann etwas mühsam neben Merthach auf den Boden. Merthach hatte gewaltige Schmerzen in seiner Schulter, und der Kampf und die vergangenen Stunden hatten ihn gewaltige Kraft gekostet. Er hatte einen langen Weg zurückgelegt, um den Than zu treffen, und nun hatte sich eine große Erschöpfung auf ihn gelegt.

Der Than berührte sachte seine Schulter und tastete dort verschiedene Stellen ab. Er strich sanft über seine Schulter und den Arm, ohne dass Merthach dadurch zusätzliche Schmerzen verspürte. Dann holte er eine große Lederflasche aus seiner Tasche und setzte sie Merthach an den Mund. Merthach war sehr durstig und nahm mehrere tiefe Schlucke von der dicken Flüssigkeit aus der Flasche, die nach frischen Kräutern schmeckte. Die Schmerzen in seiner Schulter ließen fast vollständig nach und Merthach spürte, dass er seine Finger wieder bewegen konnte.

Der Than blieb eine Weile neben Merthach sitzen und sah ihn mit seinen roten Augen ruhig und ernst an. Sie sprachen kein Wort. Merthach hätte auch nicht gewusst, was er zu diesem Zeitpunkt sagen sollte. Er hatte sich viele Fragen oder verschiedene Reden zu diesem Anlass überlegt, aber all dies erschien ihm nun ohne Belang. Der Than hatte ihn gesehen und erkannt, und nun gab es nichts mehr zu sagen. Das Gesicht des Thans war von tiefen Falten überzogen, und doch ging eine große innere Stärke von ihm aus. Merthach war nun ganz ruhig und spürte keine Schmerzen mehr.

Schließlich nahm der Than langsam eine Kette von seinem Hals. Es war eine schlichte Silberkette mit einem Amulett. Das Amulett zierte das dreizackige Blatt des Stachelblattbaumes. Merthach kannte dieses Amulett, denn der Than trug die Kette auf dem Gemälde seines Vaters. Das Zeichen des Stachelblattes war auch das Emblem an der Spitze des Stabes des Einogs M’Attar und auch der Stab des Thans zeigte dieses Emblem. Wortlos legte der Than die Kette in Merthachs Hand und schloss sie. Dann stand er langsam mit Hilfe seines Stabes auf.

Nachdem der Than sich den Riemen seiner Tasche wieder umgelegt hatte, schritt er ruhig und wortlos zurück in Richtung Waldrand. Nach einigen Schritten drehte er sich noch einmal um und sah dem jungen Krieger aus Fergardhon noch einmal in die Augen. Zu Merthachs Überraschung lächelte er nun und ihm war, als könne er ein schalkhaftes Blitzen in seinen Augen erkennen. Dann wandte er sich wieder in Richtung Wald und verschwand in Richtung der mächtigen Laubbäume.

Merthach überkam eine gewaltige Erschöpfung. Er musste ruhen, wenigstens einen Moment noch, ehe er die Rückreise antreten würde. Die Kette mit dem Amulett des Thans noch in der Hand schloss er die Augen und ließ einem tiefen Schlaf seinen Lauf. Die Waldvögel hatten wieder angefangen zu singen. Ihr Abendgesang war ausgelassen und heiter.

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